Vom Radikalsozialist zum Reformsozialist

Foto: Boeckheler

Turgut Yüksel sitzt in Jeans, schwarzem Sakko, schwarzem Hemd und dünnem schwarz-grauem Schal in seinem Büro des Frankfurter Jugendrings. Seit 1991 ist der kleine, schmale Mann mit dem freundlichen Gesicht und Brille Bildungsreferent der Dachorganisation von 29 Kinder- und Jugendverbänden. In Bilderrahmen an den Wänden hängen Plakate von Hip-Hop-Festivals und politischen Kampagnen, wie etwa zur doppelten Staatsbürgerschaft, die er mit organisiert oder mit initiiert hat.

"Mit 16 habe ich angefangen, politisch aktiv zu werden", erzählt Yüksel, dessen bewegte politische Laufbahn nicht in Deutschland, sondern in der Türkei zur Zeit der Militärjunta begann. Geboren wurde der 56-Jährige in der Gemeinde Pülümür, in der Provinz Tunceli. "Tunceli wurde Klein-Moskau – eine Hochburg von Separatisten und Kommunisten – genannt", sagt Yüksel schmunzelnd, der mit seiner Familie schon früh nach Istanbul gezogen ist.

Viel am Hut mit dem Bolschewismus der Sowjetunion oder dem chinesischen Maoismus hatte er aber nie. "Ich war ein undogmatischer Linker", so Yüksel, den die linken Bewegungen in Lateinamerika interessierten. Seinem Vater, einem Sozialdemokraten, half er als Kind Flugblätter zu verteilen und Wahlwerbung zu machen. "Mein Vater hatte aber kein großes Verständnis für meine linken Vorstellungen", sagt Yüksel, dessen Eltern die Türkei bereits 1970 in Richtung Ulm verlassen hatten. Er lebte zunächst mit seinen drei jüngeren Schwestern und dann alleine bei den Großeltern. Nach Deutschland wollte er nicht. Zu stark war sein Glaube, mit einer sozialen Revolution einen Rechts- und Sozialstaat in der Türkei etablieren zu können.

"Gegen Ende der 70er Jahre gab es bürgerkriegsähnliche Situationen zwischen Linken und Rechten", sagt Yüksel. Er hatte Frauen gekannt, die am helllichten Tag an der Bushaltestelle von paramilitärischen Einheiten erschossen wurden. "Und das nur, weil sie links waren." Yüksel selbst war Mitglied der "Föderation der Revolutionären Jugend der Türkei – Dev Genç". Er war einer von 500 000 Menschen, die sich am 1. Mai 1977 am Taksim-Platz versammelt hatten, um den Tag der Arbeit zu feiern und gegen die politischen Verhältnisse zu demonstrieren. Drei Jahre zuvor hatten die Türken nach dem Militärputsch von 1971 erstmals wieder eine Regierung wählen können. Der Einfluss des Militärs und nationalistischer Gruppierungen war aber ungebrochen – auch beider Polizei, die "plötzlich aus heiterem Himmel anfing zu schießen", erinnert er sich.

Er stand am Interconti-Hotel, das heute The Marmara-Hotel heißt. "Neben mir starben Leute und man konnte nicht mehr atmen", erzählt Yüksel. Er wollte wegrennen, doch sein Fuß klemmte unter einem riesigen Holzbalken. Nur unter größten Anstrengungen gelang es ihm, seinen Fuß zu befreien und ins Hotel zu flüchten. "Da lagen hunderte Verletzte, Schuhe, Kleidungsstücke und Tote", so Yüksel weiter. 39 Tote und fast 500 Verletzte gab es an diesem Tag zu beklagen. Yüksel selbst konnte einer Verhaftung entgehen. Ins Krankenhaus konnte er nicht. "Alle, die ins Krankenhaus gingen, wurden verhaftet", erklärt Yüksel. Die Folge: Sein linker Knöchel sieht noch heute geschwollen aus, und die Erinnerungen an den Tag haben ihm viele schlaflose Nächte bereitet. "Wenn ich heute auf große Demonstrationen gehe, bin ich immer aufgeregt", sagt Yüksel.

Ein Jahr danach schrieb ihm sein Vater einen Brief und forderte eine ultimative Antwort: "Entweder du kommst hierher oder du bist hinter Abenteuern und anarchistischen Ideen her, aber dann haben wir nichts mehr miteinander zu tun."

Wenige Monate zuvor hatte er in einer Straßenschlacht mit der Polizei eine Pistole an den Hals gedrückt bekommen und war in einen Hauseingang gezerrt worden. Im Tumult konnte er sich in der Wohnung einer älteren Frau im Kleiderschrank verstecken und einer Festnahme entgehen. Nach Rücksprache mit seinen Freunden entschloss sich Yüksel, dem Ruf seines Vaters zu folgen. "Ich weiß nicht, ob ich noch leben würde, wenn sie mir das nicht geraten hätten", sagt er nachdenklich. Nur zwei Jahre später putschte das Militär erneut. Viele seiner Freunde wurden verhaftet, in Gefängnissen gefoltert oder erschossen. Yüksel war da bereits aus Ulm nach Frankfurt gezogen, um Volkswirtschaft, Soziologie und Politologie zu studieren. Zu groß waren die Differenzen mit seinem Vater. "Ich war ein Radikalsozialist", sagt Yüksel. "Ich war damals bereit, für die Sache zu sterben." Er organisierte Hungerstreiks mit, bei denen er 46 Tage auf Nahrung verzichtete, und machte auf die Missstände in seinem Heimatland aufmerksam. Mit der Zeit ist er ruhiger geworden. "Heute würde ich mich als Reformsozialisten bezeichnen", sagt Yüksel, der mit einer Deutschen verheiratet ist und zwei Söhne im Alter von 22 und 15 Jahren hat.

Seit 1980 ist er Mitglied in der SPD und hat 1996 den Deutschen Pass angenommen, um ein Jahr später Stadtverordneter werden zu können. "Es war aber auch ein Bekenntnis zu meiner neuen Heimatstadt Frankfurt", erklärt Yüksel, der zahlreiche Initiativen und Arbeitskreise für Integration, Jugendliche oder gegen Rechtsradikalismus und Fremdenhass aufgebaut hat. Am morgigen Dienstag will ihn seine Partei als Landtags-Kandidaten für den Wahlkreis 36 nominieren, der unter anderem die Innenstadt, das Bahnhofsviertel und das Westend umfasst.

Politische Positionen und Funktionen sind dem Sozialdemokraten zwar wichtig, um seine politischen Ziele durchzusetzen, "aber wenn mich Jugendliche fragen, warum ich Politik mache, antworte ich immer: um die Welt zu verändern, nicht um etwas zu werden", sagt Yüksel.

(Quelle: Frankfurter Rundschau vom 14. Januar 2013, Lokales, Seite F5, Text: Timur Tinc, Foto: Boeckheler)