Meine Leitkultur steht im Grundgesetz

In der aktuellen Ausgabe des südhessischen Vorwärts (Mitgliederzeitung der SPD) habe ich meinen Standpunkt zur Debatte um eine "Leitkultur" dargestellt.

Manche Debatte werden immer wieder aufgewärmt, ohne etwas Neues bewirken zu wollen. Die Leitkultur-Debatte ist ein solcher Fall und wird von CDU-Politikerinnen und –Politikern immer dann losgetreten, wenn wieder einmal Wahlen anstehen und die konservative Wählerschaft mobilisiert werden soll. Mit seinem Artikel in der Bild am Sonntag aus dem April hat Thomas de Maizière sich nun auch an diesem Spiel beteiligt.

Vieles von dem, was er dort schreibt, ist sicherlich nicht falsch – im Gegenteil: Die Bekenntnisse zur Demokratie, zur besonderen Bedeutung etwa von Bildung, Kunst und Philosophie und zur historischen Verantwortung Deutschlands sind richtig, aber eigentlich auch ganz selbstverständlich. Unredlich ist er allerdings überall dort, wo er sich mit sehr konkretem Verhalten befasst – etwa dem Händedruck zur Begrüßung oder insbesondere der Plattitüde „Wir sind nicht Burka“, mit der er ein perfides Schreckgespenst aufbaut. Jeder, der mit offenen Augen durch die Straßen geht, weiß, dass diese Feststellung unnötig, weil selbstverständlich ist. Indem der Innenminister sie trotzdem trifft und effektvoll auf einer Zeitungstitelseite verbreiten lässt, macht er ein Randphänomen zum Zentrum einer Debatte, die sich eigentlich um ganz andere Fragen drehen sollte. Ja, die Burka passt nicht in das Bild unserer liberalen Gesellschaft und ist Ausdruck der Unterdrückung von Frauen. Der Versuch, diese differenzierten Bedenken jetzt jedoch zu instrumentalisieren ist verantwortungslos. Es ist bestenfalls eine Bankrotterklärung des eigenen politischen Gestaltungsanspruchs und Ausdruck der Hilflosigkeit. Einige wenige religiöse Extremistinnen und Extremisten dienen so als Schleier, der die gescheiterte Integrationspolitik der Union verdecken soll. Schlimmstenfalls aber sollen diese Erklärungsmuster islamophobes Gedankengut bedienen, um der AfD nicht den ganz rechten Rand zu überlassen.

Integration funktioniert nach de Maizières Logik denkbar einfach: ‚Die Deutschen’ müssten sich nur ihrer eigenen Leitkultur sicher sein, zu ihr stehen und sich durch sie von den ‚Nicht-Integrierbaren’ abgrenzen. Dadurch würde die Leitkultur auf wundersame Weise so „überzeugend“, dass die Mehrheit der Zugewanderten sie akzeptiert. Jeder weiß, dass ein solches „Friss oder stirb“ Unsinn ist.

Durch die Arbeitsmigration insbesondere aus den Ländern Süd-Europas und aus Nordafrika ist eine neue Kultur in den letzten Jahrzehnten in Deutschland entstanden. Diese neue heterogene Kultur der zugewanderten Menschen ist die Gesamtheit ihrer eigenen jeweiligen historischen und sozialen Entwicklung und sie besteht vor allem aus ihren Verhaltensweisen, Wertvorstellungen und Sehnsüchten sowie Bedürfnissen. Weder die Zugewanderten haben eine bessere Kultur, die sie konservieren und verteidigen müssen, noch die Bio-Deutschen sind im Besitz einer besseren, einheitlichen, hochwertigen Kultur, auf die Zugewanderten einfügen müssen. Es kann nicht darum gehen, die verschiedenen Kulturen auseinander zu dividieren und zu bewerten, um festzustellen welche falsch, welche richtig ist.

Es ist nicht die Aufgabe von Politikerinnen und Politikern, das alltägliche Zusammenleben der Menschen vorzugeben. Sie sind dafür verantwortlich, das Gemeinwesen so zu gestalten, dass ein friedliches Zusammenleben in Freiheit und Gerechtigkeit möglich ist, in denen die unterschiedlichen Kulturen sich entfalten und sich durch gegenseitige Akzeptanz in wechselseitigen Prozessen beeinflussen können.

Dies wird nicht durch ausgrenzende Wahlkampfrhetorik geschehen, sondern nur durch verantwortungsbewusstes politisches Handeln. Wer aus taktischen Gründen mit kulturellen Identitäten spielt, wird nicht nur seiner Verantwortung zur Lösung der Probleme nicht gerecht, sondern vergrößert diese sogar. Er führt diejenigen in die Irre, die sich von den Veränderungen in der Gesellschaft überfordert fühlen, und stößt gleichzeitig diejenigen vor den Kopf, die mit der Integration selbst vor einer großen Herausforderung stehen.

Integration kann nur gelingen, wenn sie als gesamtgesellschaftliche Aufgabe verstanden wird. Sie stellt Anforderungen an Migrantinnen und Migranten und beinhaltet gleichzeitig die Verpflichtung der politisch Verantwortlichen, die notwendigen Bedingungen zu schaffen und Chancen zu eröffnen. Das Grundgesetz, das hierfür den Rahmen bildet, bietet uns Bürgerinnen und Bürgern genügend Leitkultur und Leitbilder in Anlehnung an die allgemeinen Menschenrechte und Wertesysteme, an denen wir uns orientieren. Diese Werte, die aktiv vorgelebt, aber auch erlernt und verteidigt werden müssen, sind die gemeinsame Basis für das friedliche und gleichberechtigte Zusammenleben aller Menschen in Deutschland unabhängig von ihrem Glauben und ihrer Herkunft. Die im Grundgesetz festgeschriebene individuelle und kulturelle Freiheit in der demokratisch-pluralistischen Gesellschaft basiert auf der modernen, aufklärerischen, humanistischen Tradition Deutschlands und ist die Antwort auf das menschenverachtende Regime des Dritten Reiches.

Meine Loyalität als Bürger dieses Landes gilt eben für diese Verfassung, die uns alle bindet. Das erwarte ich von allen, die in diesem Land leben, egal welchen Hintergrund sie haben.